«Lieber alter Freund, nun bin ich wieder im Oberengadin, zum dritten Male, und wieder fühle ich, dass hier und nirgends anderswo meine rechte Heimat und Brutstätte ist», schrieb Philosoph Friedrich Nietzsche 1883 in einem Brief an einen Bekannten. Nur zwei Jahre zuvor war er das erste Mal nach Sils im Engadin gereist, wo er im Hause der Familie Durisch – dem heutigen Nietzsche-Haus – ein bescheidenes Zimmer bewohnte.
Nach einer erfolglosen Kur in Italien fand der wetterfühlige Denker im trockenen, sonnenreichen Klima der Hochebene endlich Linderung für seine migräneartigen Kopfschmerzen. Doch nicht nur gesundheitlich schien Nietzsche die Alpenluft zu beflügeln. Schon der erste Aufenthalt bescherte dem Philosophen den «Gedanken der ewigen Wiederkunft», die «Grundconception» zu «Also sprach Zarathustra».
«St. Moritz ist das neue Venedig – zunehmend rückt das Engadin als Hotspot auf der internationalen Kunst-Landkarte in den Fokus der Aufmerksamkeit», schrieb die renommierte «Neue Zürcher Zeitung» im Februar 2017. In der Tat haben zahlreiche Galerien die Bergregion in den letzten Jahren als Zweitstandort für sich entdeckt. Pionierarbeit hat hierbei die Kölner Galerie «Karsten Greve» geleistet, die im Jahr 1999 hier ihre Dependance eröffnete. Im Dezember 2018 kam «Hauser & Wirth» dazu, die renommierte Galerie für zeitgenössische Kunst, die in St. Moritz ihre dritte Schweizer Niederlassung betreibt.
Schriftsteller Hermann Hesses Liebe zum Engadin begann 1905, als er als 28-Jähriger erstmals zu Fuss über den Albulapass ins Engadin wanderte. Bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1962 verbrachte er fast jeden Sommer einige Wochen in der Region und liess sich hier zu Meisterwerken wie dem Gedicht «Müder Abend» inspirieren.
In einem seiner wohl bekanntesten literarischen Zeugnisse, einem Rundbrief aus dem Jahr 1954, schrieb Hesse: «Gesehen habe ich viele Landschaften und gefallen haben mir beinahe alle, aber zu schicksalhaft mir zugedachten, mich tief und nachhaltig ansprechenden, allmählich zu kleinen Heimatländern aufblühenden wurden mir nur ganz wenige, und wohl die schönste, am stärksten auf mich wirkende von diesen Landschaften ist das obere Engadin.»
Während seinen kreativen Schaffenspausen brauste Hesse gerne mit seinem guten Freund, Schriftsteller Thomas Mann, die Pisten hinunter. Dieser hatte Graubünden schon längst als Feriendestination für sich entdeckt und beschrieb die Gegend in wahrlich schmeichelnden Worten: «Dies Engadin ist der schönste Aufenthalt der Welt. Nicht leicht spreche ich von Glöck, aber ich glaube beinahe, ich bin glücklich hier.»
Nicht nur Schriftsteller und Philosophen fanden in St. Moritz und den umliegenden Ortschaften Ruhe und Inspiration, um sich kreativ zu entfalten. Überaus klangvolle Namen aus der bildenden Kunst gehören ebenso zu der beeindruckenden Geschichte des Ortes. In jener Zeit, als Pablo Picasso in Paris seine «Demoiselles d’Avignon» malte, zog es Ferdinand Hodler, einer der bedeutendsten Schweizer Maler, ins Engadin, wo er sechs Landschaften malte. Darunter auch eine stimmungsvolle Ansicht des Champfèrsees, die 2016 für über zwei Millionen Franken beim Auktionshaus Sotheby’s verkauft wurde. «Hodler fing das intensive Licht des Hochgebirgstales und die leuchtenden Farben eines sonnigen Herbsttages in wunderbarer Weise ein und belegte hiermit gleichsam seine Präferenz für Farb- und Kontrastwirkungen», schreibt das traditionsreiche Auktionshaus über das Meisterwerk.
Neben Hodler ist Giovanni Segantini einer der herausragendsten Künstler, dessen Schaffen durch die lichtdurchflutete Hochgebirgsregion geprägt wurde. Vor dem Hintergrund gewaltiger Bergpanoramen malte Segantini vor allem das bäuerliche Leben: Hirten bei der Schafschur, Kühe an der Tränke, Bäuerinnen bei der Heu-ernte.
«Ich möchte meine Berge sehen», sollen die letzten Worte von Giovanni Segantini gewesen sein. Der in Österreich geborene und später staatenlose Künstler malte bis zu seinem letzten Atemzug am 28. September 1899 auf dem Schafberg im Oberengadin an dem Kunstwerk «Natur», Mittelstück seines legendären Alpentriptychons «Werden – Sein – Vergehen». Die Bilderserie bildet seit jeher die glanzvolle Attraktion des international beachteten Segantini Museums in St. Moritz. Wobei hier nicht nur die Bilder, sondern auch das Gebäude selbst durchaus sehenswert ist. Die Architektur orientiert sich nämlich an jenem Pavillon, den Segantini zur Pariser Weltausstellung von 1900 geplant hatte. Dort wollte er ein grossformatiges Engadinpanorama präsentieren. Das Projekt scheiterte jedoch an den hohen Kosten.
Das imposante Panorama der Bündner Bergwelt soll nicht nur Giovanni Giacometti zu seinen bekannten Ölgemälden inspiriert, sondern auch dessen Sohn, Alberto Giacometti, beeinflusst haben. So sind manche Kritiker überzeugt, dass die bekannten Skulpturen des bedeutendsten Bildhauers des 20. Jahrhunderts in der Natur verwurzelt sind: Die Büsten würden dabei an Berge, die Figuren an Bäume, die Köpfe an Steine erinnern. Geboren im Bergell, wuchs der 1966 verstorbene Giacometti in Stampa auf – gerade einmal 40 Kilometer von St. Moritz entfernt – und pflegte zeitlebens eine enge Beziehung zu seinem Heimattal.